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Zwischen Bildungsreform und Nachhaltigkeit – 50 Jahre GhK/Universität Kassel in 250 Dokumenten. Eine vielfältige Sammlung historisch und wissenschaftlich wertvoller Quellen, gut lesbar und ansprechend aufgemacht.
1970er JAHRE
Die 70er Jahre: Gründung, Aufbruch, große Linien
„Man ging nüchtern an die Arbeit“, resümiert die Lokalzeitung nach der Eröffnung der
Gesamthochschule Kassel am 25. Oktober 1971: kein Tusch, kein großer Festakt. Dabei steht die neue Reform-Hochschule bundesweit für den Aufbruch in eine Bildungs-Zeit ohne Talare, aber mit Bildungschancen für viele. Zuvor waren in nur wenigen Monaten die Strukturen der Gesamthochschule Kassel geschaffen und die Gebäude des „Aufbau- und Verfügungszentrums“ in Oberzwehren hochgezogen worden – als Provisorium nur für die Anfangszeit der Hochschule, wie man damals bekräftigte.
Bestehende Bildungs-Institutionen der Region gehen in der Gesamthochschule auf: etwa die Hochschule für bildende Künste, die Ingenieurschulen in Kassel und Witzenhausen, die Höhere Wirtschaftsfachschule sowie pädagogischen Ausbildungsstätten – eine moderne Lehrerbildung ist von Beginn an einer der Schwerpunkte. Für den Endausbau sieht das Land rund 10.000 Studienplätze vor. Offen bleibt, ob der dauerhafte Campus nun auf der Dönche oder doch besser an der Fulda gebaut wird.
Gründungspräsidentin Vera Rüdiger konzentriert sich in den folgenden Jahren auf den Aufbau einer leistungsfähigen Verwaltung und die Konsolidierung des Hochschulbetriebs. 1975 folgt ihr Ernst Ulrich von Weizsäcker und gibt der Hochschule ein Nachhaltigkeits-Profil, als dieser Begriff noch gar nicht in Gebrauch war. Auch 50 Jahre später prägt dies die Universität Kassel.
1980er JAHRE
Die 80er Jahre: Entwicklungsjahre
Die Reformhochschule gibt Impulse für die Entwicklung der Bildung und der Gesellschaft in Deutschland und pflegt dabei eine Diskussions- und Konfliktkultur, die zuweilen Wellen über Kassel hinaus schlägt. So beginnt das Jahrzehnt gleich mit einem Paukenschlag: Präsident Ernst Ulrich von Weizsäcker wird im Sommer 1980 überraschend deutlich abgewählt, sein Gegenkandidat Michael Daxner zwar gewählt, aber von Land Hessen nicht ernannt. Erst ein Jahr später glättet die Wahl von Franz Neumann die Wogen, am Ende des Jahrzehnts wird ihm Hans Brinckmann folgen.
Kontinuierlicher, wenngleich ebenfalls umstritten, schreitet der Bau des neuen zentralen Campus am Holländischen Platz voran: Land, Stadt und Hochschule haben sich schließlich für den Standort auf dem Gelände der ehemaligen Firma Henschel entschieden, was der heutigen Universität das Satelliten-Schicksal von Hochschulen mit ähnlichen Gründungsdaten erspart. Auch die architektonische Qualität bewährt sich mit der Zeit: Der Campus verbindet denkmalgeschützte Industriearchitektur mit postmodernen Neubauten, deren Ziegelfassaden an die Industriegeschichte erinnern. Bis 1988 stehen wesentliche Gebäude, aber weil mehr und mehr Studierende kommen, setzt sich der Ausbau bis in die Gegenwart fort.
Ein schnelles Ende finden hingegen die Fachhochschulstudiengänge, die zunächst noch angeboten worden waren. Dagegen bestätigt der Wissenschaftsrat das Kasseler Modell gestufter Diplom-Studiengänge. 20 Jahre später wird ein ähnliches Modell europaweit ausgerollt, verknüpft allerdings nicht mit dem Namen der Stadt Kassel, sondern mit dem italienischen Bologna.
1990er JAHRE
Die 90er Jahre: Weichenstellungen
Plötzlich Mitte: Die deutsche Wiedervereinigung und das Ende der europäischen Spaltung holen Kassel aus seiner Randlage. Die Hochschule reagiert, indem sie als eine der ersten in Deutschland Strukturen für den Transfer von Forschungsergebnissen in die Gesellschaft aufbaut. Damit unterstreicht sie ihre strukturpolitische Rolle im nunmehr zentral gelegenen Nordhessen. Zugleich forciert sie ihre Internationalisierung, um in einem Europa ohne Eisernen Vorhang wahrgenommen zu werden.
Um Sichtbarkeit in einem globalisierten akademischen Kontext geht es auch, als der Konvent die Umbenennung in „Universität Gesamthochschule Kassel“ beschließt. Aber nicht nur das: Der Schritt macht deutlich, dass die Hochschule begonnen hat, ihr Forschungsprofil zu stärken und ihre Personalstruktur für eine zunehmende Forschungsorientierung umzubauen. Fast zeitgleich mit ihrer Umbenennung wird die Hochschule von der Deutschen Forschungsgemeinschaft aufgenommen – damit ist sie als Forschungsinstitution anerkannt.
Weitblickend sind die Entscheidungen auch in Witzenhausen: Die Bereiche Landwirtschaft und Internationale Agrarwissenschaft vereinigen sich zum späteren Fachbereich Ökologische Agrarwissenschaften, der 1995 den weltweit ersten universitären Studiengang Ökologische Landwirtschaft einführt. Von Witzenhausen aus wird die Agrarwende in Deutschland und der Welt im Folgenden mit geprägt. Coups gelingen in den künstlerischen Fächern: Mit den Trickfilmen „Balance“ (1990, Christoph Lauenstein mit seinem Bruder Wolfgang) und „Quest“ (1997, Thomas Stellmach und Tyron Montgomery) gewinnen Kasseler Studenten zweimal einen „Oscar“.
2000er JAHRE
Die 2000er Jahre: Selbstbestimmt, beliebt, erfolgreich
Der Jahrtausendwechsel ist auch für die Universität eine Zäsur: Das Land Hessen ermöglicht seinen Hochschulen eine weitgehende Autonomie, die Universität nutzt sie, um ihr Forschungsprofil und ihr Studienangebot auf Zukunftsfragen wie Umwelt, Technikgestaltung oder gesellschaftliche Entwicklungen auszurichten. Die Kunsthochschule konstituiert sich als teilautonome Einheit in der Universität. Mit Rolf-Dieter Postlep tritt ein neuer Präsident sein Amt an. 2002 verzichtet die Universität vollständig auf die Bezeichnung „Gesamthochschule“.
Der Hessische Landtag führt Studiengebühren erst ein und schafft sie kurz darauf wieder ab. Der Beliebtheit der Universität Kassel, die sich von Beginn an gegen diese Gebühren ausspricht, fügt das Hin und Her keinen nachhaltigen Schaden zu: Die Uni wächst und wächst und wächst. Gegen Ende des Jahrzehnts nähert sich die Zahl der Studierenden des 20.000er-Marke, und das wird noch lange nicht das Ende sein. Um die Bedingungen an der aus allen Nähten platzenden Universität zu verbessern, legt das Land Hessen ein Sonderprogramm für Sanierungen und zusätzliche Gebäude auf – nach fast 40 Jahren soll in diesem Rahmen auch das vermeintliche Provisorium AVZ in Oberzwehren aufgelöst werden.
Volle Hörsäle und Seminare – und trotzdem spitzenmäßige Lehre. Das geht, wie die Kasseler Dozentinnen und Dozenten in schöner Regelmäßigkeit beim Hessischen Hochschulpreis für Exzellenz in der Lehre beweisen. Gleich bei der ersten Ausschreibung 2007 erhält die Universität zwei Auszeichnungen, bis heute ist sie wie keine zweite hessische Hochschule Dauergast bei den Preisverleihungen – auch, weil eine bundesweit einmalige zentrale Einheit die Lehrenden unterstützt. Auch bei Forschungs-Ausschreibungen stellen sich Erfolge ein; so bewilligt die DFG 2006 im Bereich Umformtechnik den ersten Sonderforschungsbereich in Kassel. Aber nicht den letzten.
2010er JAHRE
Die 2010er Jahre: Regionale Ausstrahlung, nationale Sichtbarkeit
Campus Center statt Kino und Kirchen: Die Einweihung des neuen Hörsaal-Zentrums 2015 lindert die Raumnot. Wegen des explosionsartigen Wachstums – in der Spitze sind mehr als 25.000 Menschen eingeschrieben – hatte die Universität zeitweise Kinosäle und Kirchenschiffe angemietet. Der Ausbau des Campus Nord schreitet voran, auch an anderen Standorten entstehen Neubauten.
Die wachsende Uni strahlt aus: Soziale und künstlerische Initiativen, Gründungsförderung, Wissenstransfer und der neue Science Park auf dem Campus begründen den Ruf der Universität als „Motor der Region“. Laut EU-Kommission trägt sie dazu bei, dass die Region Nordhessen zu den innovativsten in Europa zählt. Eine Untersuchung beziffert ihren direkten und indirekten Arbeitsplatzeffekt auf rund 15.000 Jobs. Weitere Studien bescheinigen einen Erfolgskurs: Demnach zählt die nordhessische Universität zu den 30 staatlichen Hochschulen in Deutschland mit dem besten Image und zu den zehn angesehensten Arbeitgebern der Region.
Vor allem aber im akademischen Kernbereich punktet die Universität. Im renommierten CHE-Ranking belegen einige Studiengänge Top-Plätze im Deutschland-Vergleich; in der Qualitätsoffensive Lehrerbildung ist das Kasseler Konzept auf Anhieb erfolgreich und gilt als vorbildlich; ein Erfolg in einem Programm für Tenure-Track-Professuren ermöglicht der Hochschulleitung um Präsident Reiner Finkeldey einen massiven Schub für wissenschaftliche Nachwuchsförderung und Profilbildung.
2020 und ein Blick in die Zukunft
2020 und ein Blick in die Zukunft
Zu Beginn des neuen Jahrzehnts erschüttert die Corona-Krise die Welt, das Land und die Hochschulen, die allerorts schließen müssen. Schnell schaltet die Universität komplett auf digitale Lehre um. Es ist ein beispielloser Vorgang, der überraschend reibungslos funktioniert und Hinweise gibt, wo die ohnehin laufende Digitalisierung der Hochschule verstärkt werden kann, wo auf der anderen Seite aber Präsenz auf Dauer schwer zu ersetzen ist.
Auch unter diesen schwierigen Bedingungen erweist sich die Universität als handlungsfähig. Mit Partnern treibt sie den Aufbau eines Forschungszentrums zur documenta voran. Mehr als das: Mitten in der Corona-Schließung stellen Präsidium und Senat die Weichen für ein Zentrum mit 17 Professuren, das entlang der UN-Ziele für nachhaltige Entwicklung forschen wird. Es wird in Deutschland einzigartig sein. Zugleich steht es für eine Kasseler Tradition: sich immer wieder neu an den großen Fragen der Gegenwart und der Zukunft auszurichten. Heute für morgen.